Vom Ringen um Worte und der Suche nach Antworten - München trauert
In zwei bewegenden Zeremonien haben die Menschen in München der Opfer von Terror und Gewalt gedacht. Antworten auf die vielen offenen Fragen können dabei aber weder Politiker noch Geistliche geben. Ihre Botschaften sind dennoch wichtiger denn je.
München (Von Marco Hadem, dpa) – Die Blicke der rund 20 Menschen auf der Ehrentribüne des bayerischen Landtags sind an diesem Sonntag leer und tieftraurig. Nur wenige der Angehörigen der neun Opfer haben neun Tage nach dem blutigen Amoklauf von München noch Tränen übrig. Im Herzen verletzt starren sie fast reglos während des offiziellen Traueraktes mit ihren roten Augen auf die weißen Blumengedecke und die beiden nicht entzündeten Kerzen auf der Regierungsbank und lauschen den Rednern.
«Taten wie diese lassen uns erstarren, sie führen uns an die Grenze dessen, was wir ertragen können», hören sie dabei von Bundespräsident Joachim Gauck. Während seiner Rede ist es mucksmäuschenstill. Einzig einige Schnäuzer oder Huster sind zu hören. Neben Gauck nehmen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), SPD-Chef und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel, Bayerns Regierungschef und CSU-Chef Horst Seehofer sowie zahlreiche Politiker und andere kirchliche oder gesellschaftliche Würdenträger an der Veranstaltung teil. Sie alle waren zuvor in der Frauenkirche beim dortigen Gedenkgottesdienst.
Video: Bereits am Sonntagabend nahmen tausende Münchner Abschied von den Opfern des Amoklaufs am Olympiaeinkaufszentrum. Fast zeitgleich sangen hunderte Menschen für eine friedliche Welt am Friedensengel.
«Armela fehlt uns. Can fehlt uns. Chousein fehlt uns. Dijamant fehlt uns. Giuliano fehlt uns. Janos fehlt uns. Sabine fehlt uns. Selcuk fehlt uns. Sevda fehlt uns.» Beim Verlesen der Vornamen der Opfer blickt Gauck den Angehörigen auf der Empore immer wieder direkt in die Augen. «Neun unschuldige Menschen sind tot, weil ein Zehnter entschied, ja, sich anmaßte, ihnen das Leben zu nehmen. Sie fehlen plötzlich am Frühstückstisch, auf der Schulbank, im Nachbarhaus.»
Den Namen des 18-jährigen Täters erwähnt Gauck nicht. Trotzdem findet er klare Worte: «Er ist der zehnte Tote. So werden wir wohl nie erfahren, was ihn wirklich bewegt und angetrieben hat zu seinem menschenverachtenden Tun.» Zugleich warnt er mögliche Nachahmer davor, sich auf diese Weise zumindest kurzzeitige Berühmtheit, erschleichen zu wollen: «Wer auch immer glaubt, seine Person oder sein Dasein gewinne an Bedeutung, wenn er möglichst vielen willkürlich und selbstherrlich das Leben nimmt, soll wissen: In diesen Abgrund des Denkens werden wir ihm nicht folgen.»
Video: Einige Tage sind mittlerweile seit dem schlimmen Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum vergangen. Doch von Normalität kann noch lange nicht die Rede sein:
Die Angehörigen stehen im Landtag unter besonderem Schutz – aus Pietätsgründen sind weder Bildaufnahmen noch Gespräche gestattet. Doch die leeren Blicke geben einen Einblick in die unfassbare Gefühlswelt der Töchter, Söhne, Eltern und Geschwister die so plötzlich tot sind. «Die quälende Frage nach dem „Warum?“ wird uns noch lange beschäftigen. Und sie wird kaum zu beantworten sein», betont Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU).
«Die schrecklichen Attentate in Würzburg, Ansbach und München haben sich in unsere Herzen eingebrannt», betont ein sichtlich bewegter Seehofer. «Es ist wohl der schwierigste Moment in meinem Leben.» Sicherheit sei das höchste Gut einer Demokratie und die oberste Pflicht des Staates, um die Zeit des Terrors und der Gewalt zu überstehen, müsse schnell «innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens» gehandelt werden: Mehr Personal, modernere und bessere Ausrüstung, eine stärkere Polizeipräsenz. Bei aller Trauer will er auf seine in den vergangenen Tagen bereits x-fach geäußerten Forderungen an die Politik in Berlin auch in diesem festlichen Rahmen nicht verzichten. «Eine Regierung darf nicht tatenlos zusehen, wenn die Sicherheit der Bevölkerung auf dem Spiel steht.»
Doch es gebe auch Grund zur Hoffnung. «Ich bin dankbar für die Menschlichkeit inmitten der Unmenschlichkeit», betont der Ministerpräsident und verweist auf die große Anteilnahme der Menschen am konfessionsübergreifenden Trauergottesdienst in der Frauenkirche. Auch direkt nach dem Amoklauf habe sich bei den Helfern gezeigt, dass Mitmenschlichkeit über den Terror siege.
«Es sind schwere Wochen für München und ganz Bayern», sagt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). Es sei lange her, dass die Stadt mit dem Oktoberfest-Attentat von 1980 und dem Olympia-Attentat von 1972 mit Hass und Gewalt in diesem Ausmaß konfrontiert worden sei. München sei in den vergangenen 50 bis 60 Jahren auch durch hunderttausende Migranten geprägt worden. «Sie wurden Teil unserer Münchner Stadtgesellschaft, sie haben unsere Stadt bereichert.»