Winterlandschaft — © Symbolbild
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Mit Fernglas und Schaufel: Wie entsteht eigentlich ein Lawinenlagebericht

Das Schneechaos macht der Vorfreude Platz: Viele Skifahrer und Tourengeher zieht es nach der Zwangspause nun wieder ins Gelände. Schnell noch den Lawinenlagebericht gecheckt und los – doch wie entsteht dieses unverzichtbare Hilfsmittel eigentlich?

 

Bernhard Reissner steht bis zum Bauch in einem Schneeloch und fährt sachte mit dem Finger durch das kalte Weiß. Bevor es nicht minus 20 Grad hat, zieht der 39-Jährige höchst selten Handschuhe an. Dabei ist er jeden Tag, bei Wind und Wetter, stundenlang draußen unterwegs. Reissner gehört zu den Ehrenamtlichen, die für den Lawinenwarndienst Bayern die Schneedecke in den Bayerischen und Allgäuer Alpen beurteilen – damit Skitourengeher, Freerider und Schneeschuhfans ihr Risiko im alpinen Gelände abschätzen können.

 

Auch Lawinenkommissionen, Liftbetreiber und Behörden stützen sich auf den täglichen Lawinenlagebericht, wenn sie entscheiden müssen, ob eine Straße gesperrt, eine Lawine künstlich ausgelöst oder eine Ortschaft geräumt werden muss. Hans Konetschny nimmt diese Herausforderung sportlich: „Ich denke mich in die Situation rein, wie der Schnee im bayerischen Alpenraum aufgebaut ist“, berichtet der Chef der Lawinenwarnzentrale. „Ich sehe dann schwache Schichten in der Schneedecke und denke nicht an Menschen, die gefährdet sein könnten.“

 

Wie wichtig sein scharfer Blick ist, hat sich zuletzt eindrücklich gezeigt: Seit Jahresbeginn riefen die Experten an zwölf Tagen die zweithöchste der fünf europaweit einheitlichen Warnstufen aus. Allerorten rumpelten teils große Lawinen zu Tal, ganze Ortsteile wurden von der Außenwelt abgeschnitten oder vorsichtshalber geräumt. Dennoch gab es nur ein Todesopfer; eine Skitourengängerin, die sich außerhalb des überwachten und gesicherten Bereichs bewegt hatte.

 

Dabei hatte der Dauerschnee auch die Lawinenwarner herausgefordert: „Unser Problem ist, dass auch unsere Beobachter aufgrund der Gefahr immer weniger nach oben kommen“, schildert Konetschny. „In solchen Wetterlagen wird der blinde Fleck auf unserem Auge ins Gebirge immer größer.“ Zwar stützen sich Konetschny und seine zwei Kollegen in ihrem nüchtern-grauen Behördenzimmer in München auch auf 19 Wetterstationen, die entlang des Alpenbogens verteilt sind. Doch bei den aktuellen Verhältnissen lieferten auch diese nicht immer zuverlässige Messdaten – einige waren schlicht vereist.

 

Umso genauer hört Konetschny zu, als Bernhard Reissner ihn am Nachmittag anruft. Nicht einmal eine Stunde zuvor hat Reissner am Rauhkopf im Spitzingseegebiet südlich von München einen Blocktest gemacht. Mit seiner Lawinenschaufel grub er ein großes Loch in den metertiefen Schnee, in dessen Mitte eine etwa 40 mal 40 Zentimeter breite Säule stehenbleiben sollte. Doch noch bevor die vierte Seite freigelegt war, brach die Spitze des Blocks ab – ein Alarmzeichen.

 

Behutsam fährt Reissner mit dem Zeigefinger von oben nach unten durch den Schneeblock. Am Anfang kommt kompakter, gebundener Schnee, nach 25 Zentimetern knirschen kantige Kristalle am Fingernagel. Die Gefahr: Auf dieser ein Zentimeter dicken Schicht könnten Skifahrer bei ausreichender Steilheit die gefürchteten Schneebretter auslösen.

 

„Örtlich Oberflächenreif und im Westen eine markante Eislamelle stellen Schwachschichten in der oberflächennahen Schneedecke dar“, heißt es deshalb im Lawinenlagebericht für den nächsten Tag. Auch andere „Nachmittagsbeobachter“ hatten die Kristalle entdeckt. 25 von ihnen gibt es bayernweit. Ihren Namen verdanken sie ihrem ehrenamtlichen Engagement: Sie gehen im Prinzip täglich ins Gelände und geben ihre Beobachtungen am Nachmittag der Lawinenwarnzentrale durch.

 

Auch Reissner ist als Förster permanent in seinem Revier unterwegs. Begleitet von den Hunden Mali und Ronja stapft er mit Schneeschuhen und Fernglas durchs Gelände. Dabei entgeht ihm nichts: Hier ist ein Geländerücken abgeblasen, dort hängt eine Wechte. Am einen Hang zeigen sich Lockerschneerutsche, am anderen ein 150 Meter breiter Anriss eines Schneebretts. Wie tief sinken seine Schneeschuhe ein? Bis zu welcher Meereshöhe ist der Schnee auf den Bäumen bereits abgetaut? Aus all diesen Informationen zieht Reissner seine Schlüsse und gibt sie weiter – damit die Allgemeinheit nach den Chaostagen nun so sicher wie möglich ein Wintermärchen erleben kann. Auch wenn ein Restrisiko selbst bei der niedrigsten Lawinenwarnstufe immer bleibt.

 

dpa

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