Schwierige Rückkehr zur Normalität: ein Jahr nach Münchner Amoklauf
Der Amoklauf in München hat vor einem Jahr die ganze Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt. Manch einer findet nur schwer zur Normalität zurück. Wie der Schütze einzuordnen ist, wird noch immer diskutiert.
München – Der weiße Teddy mit dem rosa Hemdchen und den Flügeln: Das könnte der für Armela sein. Sie war 14, als der Amoklauf des vier Jahre älteren David S. am 22. Juli 2016 ganz München in einen Schockzustand versetzte. Armela war das erste seiner neun Opfer. Auch ein Jahr danach liegen vor dem Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München Blumen, Bilder der neun Getöteten – und unglaublich viele weiße Teddys. Einen davon hat Armelas Bruder Arbnor niedergelegt.
Zum Jahrestag wird gleich neben der provisorischen Erinnerungsstelle ein offizieller Gedenkort eröffnet: Ein Lebensbaum, umfasst von einem zwei Meter hohen Ring aus poliertem Edelstahl, der in der Erde versinkt und wie ein Schmuckstück neun Steine trägt. Innen sollen sie die Namen und Bilder der neun Todesopfer tragen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Angehörige der Opfer werden sprechen. Auch Armelas Familie soll dabei sein.
Nebendran im OEZ bleiben die Läden bis zum Ende der Feier dicht – «aus Respekt den Betroffenen», sagt Center-Manager Christoph von Oelhafen. Ein Schreiben des Managements hat die Geschäftsleute auf den Ansturm der Presse vorbereitet. Keine Interviews, heißt es in den Läden. «Für uns ist soweit Normalität eingekehrt», sagt ein Mann hinter einer Ladentheke nur. «Wir sind froh, dass wir alle unsere Arbeitsplätze haben.» Nach dem Amoklauf hatten die Geschäfte über erhebliche Einbußen geklagt.
Mancher Kunde hat unwillkürlich die Tat vor Augen, wenn er das OEZ betritt. An einer Stelle ist versteckt noch ein Einschuss zu sehen.
«Ich finde schon, dass man daran denkt, wenn man da ist», sagt Besucherin Isabella Eggleder. Das Leben habe sich verändert. «Man erschrickt schnell.» Der Gedanke an Terror und Gewalt ist allgegenwärtig. Und hat in der Amoknacht wohl zu dem Ausnahmezustand beigetragen, der in der ganzen Stadt herrschte.
Als sich David S. zweieinhalb Stunden nach der Tat vor den Augen von Polizeibeamten erschießt, harren verängstigte Menschen in Kellern aus, suchen Schutz bei Münchnern, die ihre Wohnungen für sie öffnen – oder flüchten in Todesangst. An über 70 Orten melden Menschen Schüsse, Verletzte und Tote – obwohl es dort keinerlei Bedrohung gab.
Ein Minimalreiz habe genügt, «um beim Einzelnen den Schalter umzulegen und ihn Dinge als Bedrohung empfinden zu lassen, die völlig harmlos sind», sagt der Sprecher der Münchner Polizei, Marcus da Gloria Martins, der den Einsatz begleitete. «Das waren zum Beispiel herunterfallende Tabletts in einer Gaststätte oder eine umstürzende Aluleiter in einem Geschäft.» Beides sei als Schüsse interpretiert worden. Er spricht von einem kollektiven Phänomen. «Einer fängt an zu laufen – und jeder, der das sieht, läuft mit. Das hat eine infektiöse Wirkung – wenn es eine entsprechende Grundlage gibt.» Am frühen Morgen konnte die Polizei Entwarnung geben, die Lage beruhigte sich.
Am Nachmittag des 22. Juli hatte sich David S. aufs Fahrrad gesetzt. Er fuhr zum OEZ – um seinen monatelang vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen. Eine Pistole vom Typ Glock 17 und mehrere Hundert Schuss Munition hat er im Rucksack. Eine Stunde schaut er sich im McDonald’s am OEZ um. Um 17.51 Uhr geht er auf die Sitznische zu, in der Armela und ihre Freunde sitzen. Er kennt sie nicht. Er feuert. Die 14-Jährige und vier etwa Gleichaltrige sterben, nur ein 13-Jähriger überlebt. Dann läuft David S. ins OEZ, feuert weiter. Die Ermittler fanden knapp 60 Patronenhülsen, die aus seiner Pistole stammten.
Der Hass des psychisch kranken Schülers richtete sich den Ermittlern zufolge gegen Jugendliche, die von Alter, Aussehen, Herkunft und Lebensstil denen ähnelten, die ihn über Jahre gemobbt und gedemütigt hatten: junge Menschen mit südosteuropäischen Wurzeln. Dazu zählten Armela, deren Familie aus dem Kosovo stammt, und ihre Freunde.
David S. hat selbst iranische Wurzeln. Sein Vorbild war unter anderem der rechtsextreme norwegische Massenmörder Anders Breivik. Bei einem Klinikaufenthalt zeichnete er Hakenkreuze, zeigte einmal den Hitlergruß und steigert sich in Hasstiraden. «Ich bin Deutscher», rief er nach den tödlichen Schüssen auf seine vorwiegend jugendlichen Opfer, fast alle mit Migrationshintergrund.
Dennoch bleiben die Ermittler bei dem Schluss, dass sein Motiv persönliche Kränkung war. Die Landtagsgrünen haben sich vorerst nicht durchgesetzt mit ihrem Vorstoß, seinen Radikalisierungsprozess genau aufzuarbeiten. Ob der Prozess gegen den mutmaßlichen Verkäufer der Waffe, der im August beginnt, dazu neue Einblicke bringt, ist offen.
Die Tat eines psychisch Kranken, der eine rechte Gesinnung hatte – oder eine auch rechtsextrem motivierte Tat: In der Politik gingen die Meinungen auseinander, teils sogar innerhalb der Parteien. David S. sei ein geistig verwirrter Einzeltäter gewesen, seine Opfer habe er «rein zufällig» ausgewählt, meinte Peter Paul Gantzer (SPD) im April im Innenausschuss des Landtags. Sein Fraktionskollege Peter Ritter sagte hingegen: «Wenn eine rechtsextreme Gesinnung bei dem Täter festzumachen ist, muss das ja irgendwie mit reinspielen.»
Die Eltern des Täters – was mag in ihnen vorgehen? Armelas Familie kann am Jahrestag mit den anderen gemeinsam Abschied nehmen, Mitgefühl und Unterstützung teilen. Die Eltern von David S. hingegen bekamen anstatt Anteilnahme nach der Tat ihres Sohnes massive Drohungen. Sie leben nun im Ausland unter anderem Namen.
Von Sabine Dobel, dpa