
Dann zählt jede Minute: Helfer üben Rettung aus Lawine
Die winterlichen Berge locken immer mehr Menschen. Dieses Jahr sind die Verhältnisse perfekt wie lange nicht. Immer wieder geraten Wintersportler in Lawinen – manchmal sogar direkt neben Pisten. In Oberbayern am Sudelfeld übten Retter den Ernstfall.
Oberaudorf: – Zuerst hört sie den Helikopter. Lange kreist er, immer wieder Motorengeräusche. Knapp einen Meter unter dem Schnee harrt Josefa Regauer auf Rettung. Helfer stapfen nebeneinander über den Lawinenkegel, stechen mit Sonden in den Schnee – um zu spüren, ob jemand darunter liegt. Darüber schwebt eine Drohne mit Kamera – um Dinge zu zeigen, die bei der Suche helfen: etwa Skistöcke oder Skier, die der Schnee dem Skifahrer weggerissen hat.
Wenn Menschen verschüttet werden, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Die 19-jährige Regauer, selbst Bergwachtanwärterin, ist am Mittwoch am oberbayerischen Sudelfeld bei Oberaudorf nur Testperson. Für eine Übung des Alpinen Einsatzzuges vom Polizeipräsidium in Rosenheim und der Bergwacht ließ sie sich eingraben – bei minus 16 Grad.

«Der Hund hat mich schnell gefunden», sagt sie hinterher. «Die haben mich innerhalb einer Viertelstunde draußen gehabt, es ist sehr flott gegangen.» Dennoch habe sie eine Vorstellung, wie es sein muss: Wenn man wirklich verschüttet ist. Dann zählt jede Minute.
Statistisch liegen die Überlebenschancen nach den ersten 15 Minuten noch bei 90 Prozent, wie Florian Lotter von der Bergwacht Bayern sagt. Nach einer halben Stunde sinkt sie auf ein Drittel. Dann verschlechtert sich die Chance rapide. Wer nicht durch den Schnee tödlich verletzt wird, erstickt meist – die Größe der Atemhöhle vor dem Gesicht entscheidet oft über Leben und Tod.
Gerade noch im unberührten Schnee wunderbare Spuren gezogen, Sekunden später in der Lawine. «Wie schnell aus einem Vergnügen eine persönliche Katastrophe werden kann, ist vielen nicht so bewusst», sagt Staatskanzleichef Marcel Huber (CSU), der als Beobachter die Übung verfolgte. Er sei beeindruckt von der Leistung der Retter. «Die Dinge passieren ja in der Regel nicht neben dem Parkplatz, wo man ein wärmendes Zelt aufstellen und schön zuschauen kann.»
Die Zahl der Einsätze für den Alpinen Einsatzzug steige, sagt der Rosenheimer Polizeipräsident Robert Kopp. Die Beamten helfen auch, wenn es um Situationen wie beim Zugunglück von Bad Aibling geht. Und immer mehr Menschen zieht es in die Berge – gerade Tourengehen boomt.

Schon einmal in diesem Winter, am 21. Januar, kamen die Retter an ihre Grenzen. Binnen drei Stunden wurden bei drei Lawinenabgängen fünf Menschen von Lawinen erfasst. Vier wurden gerettet. Für einen Mann am Geigelstein in den Chiemgauer Alpen kam die Hilfe zu spät – der dritte Lawinentote in Bayern seit Herbst 2017.
Den ersten Unfall gab es bei einem Wintereinbruch schon im September. Die Lawine riss auf einem sonst ungefährlichen Wanderweg im Chiemgau einen jungen Niederländer vor den Augen seiner Eltern und seines Bruders in die Tiefe. Im November, vor dem richtigen Saisonstart, starb eine Skitourengeherin am Kehlstein im Berchtesgadener Land.
Der Schnee kam dieses Jahr früh – und mit Macht. Im österreichischen St. Anton, im Paznauntal und im schweizerischen Zermatt waren Tausende Touristen im Januar eingeschneit. Erinnerungen an den Lawinenwinter 1999 wurden wach. In dem italienischen Wintersportort Sestriere im Piemont ging eine Lawine auf ein Ferienhaus nieder – drinnen waren 29 Menschen, sie wurden aber nicht verletzt.
Es gab auch eine ganze Reihe tödlicher Unglücke. Erst vor zehn Tagen starben ein Vater und seine elfjährige Tochter in Frankreich. Sie waren bei Val-d’Isère auf eine wegen Lawinengefahr gesperrten Piste gefahren. Immer wieder passiert das: Pistenfahrer ohne Lawinenausrüstung lassen sich von unberührten Hängen verführen.
Viele Schnee sorgt derzeit für beste Wintersportbedingungen. «Wir haben eine hervorragende Tourensituation – von Bayern über die Dolomiten bis in die Schweiz und nach Frankreich. Das ist eine Lage, die wir in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr gehabt haben», sagt Andrea Händel vom Deutschen Alpenverein (DAV).
Bisher gibt es aber keinen extremen Anstieg der Unfälle. «Es ist anhand der Einsatzzahlen war ein ganz normaler Winter», sagt der Geschäftsführer der Bergwacht Bayern, Daniel Freuding. In der Schweiz liegt laut dem Institut für Schnee- und Lawinenforschung die Zahl der Lawinentoten mit 13 etwa im langjährigen Mittel.
Über die Hälfte aller tödlichen Unfälle ereignet sich laut dem Davoser Institut bei Warnstufe drei von fünf. Derzeit ist die Gefahr trotz des vielen Schnees aber gering (Stufe eins) bis mäßig (Stufe zwei). Die Kälte habe die Altschneedecke konserviert – und die sei relativ stabil, sagt Hans Konentschy, Leiter des Lawinenwarndienstes Bayern. «Deshalb haben wir momentan keine großen Probleme.» Wenn es in den nächsten Tagen wärmer wird und Wind dazu kommt, kann sich das schnell ändern – die Warnstufe kann steigen, auch wenn es nicht neu schneit. Dann müssen die Retter womöglich bald wieder ausrücken.
Von Sabine Dobel, dpa